Warum wird ADHS bei Mädchen und Frauen erst spät oder gar nicht erkannt? Wie fühlt sich ADHS an? Wo können sich Betroffene melden? Und wie wird es behandelt? Dies und mehr erfährst du in diesem Artikel.

Über ADHS bei Erwachsenen und insbesondere bei Frauen liest und hört man viel, vor allem in den sozialen Medien. Auf Instagram und Tiktok kursieren viele Videos zum Thema. Diese Sichtbarkeit schärft einerseits das Bewusstsein. Andererseits birgt es die Gefahr, dass Betroffenen ihre Diagnose abgesprochen wird, da fast jede und jeder gewisse «Symptome» hat.

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Was ist ADHS?

ADHS ist eine andere Art zu denken, zu fühlen und zu handeln. Das Gehirn bei Menschen mit ADHS unterscheidet sich in der Art und Weise, wie Neuronen kommunizieren und sich miteinander verbinden. Das betrifft insbesondere die Bereiche im Gehirn, die Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und das Belohnungssystem steuern. 

Gut zu wissen

 

Es gibt nicht nur eine Form der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, sondern ganz viele Ausprägungen. Grundsätzlich werden drei Untertypen unterschieden:

 

  • unaufmerksamer, verträumter Typ = ADS
  • hyperaktiv-impulsiver Typ = ADHS
  • kombinierter Misch-Typ = ADHS/ADS

Während manche Betroffenen keine bis kaum Probleme mit ihrem ADHS haben, fühlen sich andere in ihrer Lebensqualität stark eingeschränkt. Sie haben Mühe, den Alltag zu strukturieren und leiden darunter, nicht ihr volles Potenzial auszuschöpfen.

Wie fühlt sich ADHS im Erwachsenenalter und insbesondere bei Frauen an?

Menschen mit einem hyperaktiven Gehirn sagen: «Mein Gehirn steht nie still. Es dreht sich immer.» Die Autorin Angelina Boerger beschreibt es in ihrem gleichnamigen Buch als «Kirmes im Kopf». Als ständigen inneren Drang, etwas zu tun – und es dann doch nicht zu tun. Wie eine nie endende To-do-Liste:

 

 

  • Man beginnt viele verschiedene Dinge, hat aber Mühe, sie zu beenden.
  • Man hat jeden Tag eine neue Idee – und verwirft sie dann wieder, weil die Umsetzung zu anstrengend ist oder das nächsten Projekt schon ansteht.
  • Man ist innerlich unruhig, kann sich schlecht konzentrieren und lässt sich leicht ablenken.
  • Routinearbeiten sind eine Tortur, genauso wie verbindliche Pläne.
  • Wer sich jedoch für ein Thema interessiert, kann den sogenannten Hyperfokus entwickeln und tief in die Materie eintauchen.
  • Im Gespräch entsteht die Tendenz, viel und schnell zu reden und auch mal Dinge zu sagen, die man später bereut.

 

Charakteristisch bei Frauen mit ADHS ist ein tiefes Selbstwertgefühl, aber eine hohe Resilienz. Irene Beerli von der Beratungsstelle adhs20+ sagt dazu: «Von klein auf mussten sie immer wieder Hürden überwinden, sind auf Widerstand gestossen. Frauen mit ADHS sind oftmals sehr empathisch, haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und stellen die Bedürfnisse anderer vor ihre eigenen.»

Warum wird ADHS bei Mädchen und Frauen nicht so leicht erkannt?

ADHS betrifft sowohl Kinder und Jugendliche als auch Erwachsene. Frauen können ebenso häufig ADHS haben wie Männer, erleben es jedoch oft völlig anders. Während sich ADHS bei Jungen und Männern eher durch äussere Symptome wie Hyperaktivität und Impulsivität zeigt, sind Mädchen und Frauen eher verträumt, haben Konzentrationsprobleme und leiden an innerer Unruhe.

 

Beim Begriff ADHS haben viele sofort das Bild des Zappelphilipps vor Augen – ein Kind, das nicht stillsitzen kann, das den Unterricht stört, das schlechte Schulnoten hat. Dabei ist ADHS viel mehr als Hyperaktivität. Es weist ein breites Spektrum auf und wird in die Hauptmerkmale Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsstörungen und Impulsivität unterteilt.

 

Wenn ein Mädchen in der Schule gut mitkommt (obwohl sie immer nur das Nötigste macht) und auch sonst nicht negativ auffällt, kann es gut sein, dass ihr ADHS lange unerkannt bleibt – oder gar nie festgestellt wird. Und dass Merkmale wie Ungeduld, Minimalismus, Begeisterungsfähigkeit, Verträumtheit oder auch Wut und Aggressionen fälschlicherweise als Charaktereigenschaften benannt werden.

Wie zeigt sich Hyperaktivität bei Erwachsenen?

  • Ineffizienz bei der Arbeit
  • Wird unruhig bei langen Meetings
  • Neigt dazu, sich beim Fahren nicht an das Tempolimit zu halten
  • Unterbricht andere
  • Macht unpassende Kommentare

 

Wie zeigen sich Aufmerksamkeitsstörungen bei Erwachsenen?

  • Macht häufig Flüchtigkeitsfehler (z. B. vergisst Formulare zu unterschreiben)
  • Liest Anleitungen nicht durch
  • Findet Routinearbeiten und lange Abhandlungen mühsam
  • Vermeidet Aufgaben, die viel Denkarbeit / Durchhaltevermögen verlangen
  • Verlegt oder verliert Alltagsgegenstände (z. B. Schlüssel, Smartphone)
  • Wird leicht abgelenkt durch Gespräche, Musik, E-Mails, Anrufe, Nachrichten

 

Wie zeigt sich Impulsivität bei Erwachsenen?

  • Fällt anderen ins Wort, beendet Sätze von anderen
  • Sieht schnell mal rot
  • Handelt oder spricht, ohne an die Folgen zu denken (im Nachhinein wird das Getane bereut)
  • Risikoreiches Fahren im Strassenverkehr; regt sich über andere auf
  • Beim Schlange stehen: Hat Probleme abzuwarten, bis man an der Reihe ist
  • Macht Spontankäufe

Habe ich ADHS?

 

Hast du den Verdacht, dass du eine ADHS (Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit oder ohne Hyperaktivität) haben könntest? Der ADHS-Test der Beratungsstelle adhs20+ gibt erste Hinweise. Wenn du 20 und mehr Punkte erreichst hast, ist es empfehlenswert, mit einer Fachperson zu sprechen (ADHS-Beratung / ADHS-Fachpersonen).

Eine Abklärung ist sinnvoll, wenn...

 

  • du das Gefühl hast, dass du nicht dein ganzes Potenzial ausschöpfst und das ändern möchtest.
  • du immer wieder aneckst, ohne genau zu wissen, was du «falsch» gemacht hast.
  • du dir von klein auf anhören musstest, du seist faul, du könntest schon, wenn du nur wolltest.
  • du viele Flüchtigkeitsfehler machst.
  • du dich schnell ablenken lässt.
  • du Dinge oft aufschiebst oder gar nicht machst, weil sie zu anstrengend sind.
  • Routinearbeiten für dich eine Qual sind.

Bringt mich eine Diagnose weiter?

Eine Diagnose kann Betroffenen in jedem Alter helfen. Viele berichten, dass sie froh darüber seien, endlich etwas in der Hand zu halten. Es schwarz auf weiss zu sehen, dass sie sich die Symptome nicht einbilden, nicht verrückt sind, kann befreiend sein.

 

Eine Diagnose bedeutet aber noch lange nicht, dass man nun täglich Medikamente nehmen oder eine Therapie machen soll. Manche haben im Laufe ihres Lebens schon erfolgreich Strategien entwickelt und kommen gut durch den Alltag. Andere wünschen sich in bestimmen Situationen mehr Unterstützung und nehmen diese gerne an.

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Wie wird ADHS behandelt?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Lebensqualität von ADHS-Patientinnen und -Patienten zu verbessern. In den meisten Fällen kommt eine Kombination aus Stimulanzien (Medikamente) und einer kognitiven Verhaltenstherapie oder einem ADHS-Coaching zum Einsatz.

Stimulanzien

Stimulanzien (Medikamente) bei ADHS können helfen, die Konzentration zu erhöhen und Hyperaktivität zu reduzieren, indem sie die Balance von Neurotransmittern im Gehirn verbessern. Dadurch erleichtern sie Betroffenen, Aufgaben fokussierter und ruhiger anzugehen.

 

Kognitive Verhaltenstherapie

In der Verhaltenstherapie lernen ADHS-Betroffene, negative Gedankenmuster zu durchbrechen und ihre Stärken zu erkennen. Diese Therapie wird von speziell ausgebildeten Fachleuten angeboten.

 

ADHS-Coaching für Erwachsene

Das ADHS-Coaching ist keine Psychotherapie. Der Coach nimmt eine Art Spiegelfunktion ein und unterstützt Betroffene dabei, Ziele zu formulieren und diese umzusetzen. In einem Coaching erhält man viele praktische Tipps für den Alltag, sogenannte Coping-Strategien.

Was bezahlt Visana?

 

Die Grundversicherung (abzüglich Franchise und Selbstbehalt) übernimmt die Kosten für Medikamente und für Therapien, die von Psychiaterinnen und Psychiatern durchgeführt werden.

 

Grundversicherung


Medikamente:
- Die Kosten für verschriebenen Medikamente werden von der Grundversicherung übernommen.

Therapie:
- Psychotherapie: Die ersten 40 Sitzungen werden bezahlt. Falls mehr Sitzungen nötig sind, kannst du einen Antrag auf Kostenübernahme stellen (Kostengutsprachegesuch).

- Psychologische Psychotherapie (vom Arzt, von der Ärztin angeordnet): Hier werden die ersten 30 Sitzungen übernommen. Auch hier ist auf Antrag eine Verlängerung möglich.

 

Zusatzversicherungen

Ambulant II/III : Visana übernimmt maximal 5000 Franken pro Kalenderjahr.

Mehr zu den Zusatzversicherungen

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Coping-Strategien im Alltag

Stressmanagement bei ADHS-Patientinnen und -Patienten ist wichtig. Aber welche Methoden gibt es dafür? Die eine Strategie gibt es nicht. Einige finden To-do-Listen hilfreich, andere fühlen sich dadurch noch mehr gestresst. Strukturen können aber helfen, den Alltag zu organisieren. Das kann zum Beispiel sein, immer um die gleiche Zeit aufzustehen und ins Bett zu gehen. Hier gibt es einige Tipps.

Ablenkung vermeiden

Vielen hilft es, Ablenkungen zu vermeiden, indem sie eine ruhige Arbeitsumgebung schaffen. Je nach Job, Familien- und Wohnsituation ist das Arbeiten im Homeoffice ideal. Hilft ausserdem: Smartphone auf lautlos stellen oder in den Flugmodus schalten und E-Mails nur zu fixen Zeiten abrufen und beantworten, z. B. einmal am Morgen und einmal am Nachmittag.

 

Auspowern beim Sport

Sport und Bewegung unterstützen beim Abschalten und können die Konzentration verbessern. Überwinde den «inneren Schweinehund» mit unserem sportlichen Wohlfühltipp.

 

Pausen machen

Regelmässige Pausen sind wichtig, um die Batterien wieder aufzuladen. Manchen hilft Yoga oder Meditation, andere können am besten im Schlaf entspannen. Progressive Muskelentspannung kann ausserdem helfen, Stress abzubauen.

 

Gib dir ein High five

Sich auf die Schulter klopfen, wenn du einen Vorsatz umgesetzt hast, tut gut. Das Gefühl von Freude oder Stolz ist die beste Belohnung. Mehr Wohlfühltipps, die du direkt umsetzen kannst, findest du hier.

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Interview: Warum es für eine Abklärung nie zu spät ist

Irene Beerli, Vorstandsmitglied der Beratungsstelle adhs20+ in Zürich, hat ihre ADS-Diagnose mit 55 Jahren erhalten. Im Gespräch mit Visana erzählt sie von der grossen Befreiung, als sie die Diagnose in den Händen hielt.

 

Frau Beerli, was war das für ein Gefühl, endlich zu wissen, was los ist?

Für mich war es eine unglaubliche Entlastung zu wissen, dass ich ADS habe. Das «Komisch-Sein» hat endlich einen Namen, wird greifbar. Durch die Diagnose hatte ich die Chance, das Leben neu an die Hand zu nehmen – und kann heute, acht Jahre später, mein Potenzial ausschöpfen. Das schenkt mir viel Zufriedenheit.

 

Was ist heute anders als früher?

Ich komme schneller in die Gänge, kann Bücher lesen oder ins Theater gehen und das auch geniessen. Oder wenn ich mir vornehme, am Wochenende den Garten oder den Haushalt zu machen, dann ziehe ich das durch. Mir persönlich helfen Medikamente, mich besser zu konzentrieren, meine To-do-Liste abzuarbeiten. Was mir dabei wichtig ist zu sagen, ich entscheide selbst, in welchen Situationen ich ein Medikament nehmen möchte, ich bin die Chefin.

 

Macht eine Abklärung in jedem Alter Sinn?

Auf jeden Fall, denn durch die vielen kleinen Rückschläge leidet unter Umständen das Selbstwertgefühl. Und je nachdem meidet man dann gewisse Situationen, um sich selbst zu schützen. Macht zum Beispiel die Weiterbildung nicht, die man eigentlich gerne machen würde, lebt seine Sehnsüchte nicht. Ich beschreibe es gerne so: Man sitzt in einem schnellen Auto, hätte also die Möglichkeit loszubrausen, fährt aber mit angezogener Handbremse. Eine Abklärung macht ausserdem Sinn, da ein unbehandeltes ADHS auf Dauer krankmachen kann. Folgeerkrankungen sind beispielsweise Depressionen oder ein Burn-out.

Haben Sie Tipps für die erste Zeit nach der Diagnose? Wie geht man am besten damit um?

 

  • Ganz wichtig ist die Akzeptanz. Anzunehmen, dass man das hat. Sich mit sich selbst versöhnen und nicht zu streng mit sich zu sein, wenn mal etwas nicht so rund läuft.
  • Eine Gebrauchsanweisung für sich selbst schaffen. Sich überlegen, was ist für mich persönlich wichtig, was mir hilft.
  • Aufhören, sich mit anderen zu vergleichen.
  • Strukturen schaffen, die zu einem passen. Zum Beispiel den Schlüssel immer am gleichen Ort aufbewahren.
  • Sich nicht als Opfer sehen, sondern kleine Missgeschicke mit Humor nehmen.
  • Grosszügig mit sich selbst sein, Verständnis zeigen. Das ist auch ein wichtiger Punkt in einer Beziehung oder innerhalb der Familie. Es tut gut, offen darüber zu sprechen und auch mal Verständnis einzufordern.

Welche Bücher zum Thema ADHS bei Erwachsenen können Sie empfehlen?

Es gibt viele gute Bücher: Mit ADHS erfolgreich im Beruf von Heiner Lachenmeier, AD(H)S – Hilfe zur Selbsthilfe von Helga Simchen oder Habe ich AD(H)S ?…und wenn ja, was mache ich Gutes draus? von Astrid Neuy-Lobkowicz kann ich sehr empfehlen.

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Hier bekommst du Hilfe

ADHS-Beratung

Bei Verdacht auf ADHS kannst du dich bei der Schweizerischen Info- und Beratungsstelle adhs20+ beraten lassen. Die Fachstelle bietet individuelle und persönliche ADHS-Beratungen für Erwachsene in Zürich und Lenzburg an. Eine 90-minütige Beratung kostet 150 Franken und dient als Standortbestimmung, um die bestmögliche Lösung für dich zu finden.

Hier kannst du dich für einen Beratungstermin anmelden.

 

Prävention und Information sind der Beratungsstelle adhs20+ besonders wichtig. Darum bietet sie nebst persönlichen Beratungen auch Weiterbildungen und Seminare für Schulen, Soziale Institutionen, Berufsverbände und Unternehmen an.

 

  • Kostenlose, telefonische Beratung der ADHS-Organisation «elpos Schweiz»: https://elpos.ch/

 


Die ADHS-Diagnose wird von spezialisierten Psychotherapeuten gestellt.

Du kannst dich je nach Versicherungsmodell direkt an eine Fachperson wenden oder lässt dich von deinem Hausarzt oder deiner Hausärztin überweisen. Beachte jedoch, dass es momentan zu langen Wartezeiten (bis zu sechs Monaten) kommen kann.

 

Weitere Informationen:

  • ADHS im Erwachsenenalter. Ein Betroffener erzählt: Link
  • ADHS im Erwachsenenalter diagnostiziert: Podcast mit Sven Rehmann: Link
  • ADHS und Autismus, Lia (19) erzählt: Link

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